Wir haben gefragt
Die egoistische Überschreitung natürlicher Befugnisse
Mit dem Anstand, das ist so eine Sache, da hat wohl Jederfrau ihre Erfahrungen gemacht. Kann man Anstand an Regeln festmachen? Nicht mal Moses konnte das, also stieg er auf einen Berg und legte zehn Anstandsregeln fest. Wenn man sich die zehn christlichen Gebote aufmerksam durchliest, dann hätte es dafür weder eines Berges noch göttlicher Eingebung bedurft. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!“ Sehr einleuchtend, das Gebot würde es heute wohl auf Platz eins schaffen. „My home is my castle!“ Vermutlich war Eigentum noch nie zuvor so hoch im Kurs und so viel. Dabei stellt sich durchaus die Frage, wo Eigentum beginnt und wo es endet.
Neulich saß ich nach Rückkehr vom Gipfel eines wenig prominenten Berges in geselliger Runde vor einer gut erschlossenen Berghütte, als über den Hüttenweg vier dicke Benzinkutschen aus deutscher Nobelproduktion herangestaubt kamen. Als die motorisierte Gruppe die Hütte betrat, fragte ich rotzfrech, ob das denn legal sei. Worauf eine durchaus noch gehfähige Gruppenfrau meinte: „Wir haben gefragt!“ Und sie hätten ein schlechtes Gewissen gehabt, woraufhin ich ihr attestierte, dass das durchaus berechtigt sei. Hätten die herumspielenden Kinder gefragt, ob sie auf den Kühlerhauben Steinmännchen errichten dürften, hätte ich das genehmigt und eigenhändig unter den Deckstein einen Zettel geklemmt: „Sie haben gefragt!“
Während die einen also ihr frevelhaftes Tun mit der Sanktionierung einer vermutlich nicht genehmigungsberechtigten Person legitimieren, müssen sich die übrigen Wanderer geduldig von Staubfahnen umwehen lassen. Denn was wäre das für ein Durchfahrtverbotsschild, wenn es von Wanderfaulenzern einfach hinweg gefragt werden kann. Der Mensch ist sich immer selbst am nächsten. Ob es nun um eine Kreuzfahrt geht, die man ja nur einmal im Leben mache und somit auch das Schweröl nicht zu verantworten habe oder bei einer Flugreise, weil ja der Platz im Flieger sonst leer wäre, wie auch auf dem Luxusdampfer.
Fragt sich nur, ob der Klimawandel sich von diesen Ausreden überzeugen lässt und ob er denn die Klimasünder am meisten treffen wird. Vermutlich nicht, denn Gerechtigkeit kommt beim Klimawandel nicht vor. Genaugenommen wird er ausgerechnet die am härtesten treffen, die ihn am wenigsten verschuldet haben und selbst dann noch werden die Klimabewahrer von den Klimasündern an den Grenzen empört zurückgewiesen. „Was erlauben sie sich!“ Und dem unverschuldet aufgezwungenen Elend überlassen.
Dass wir Industriestaatler in Sachen Umweltverbrauch deutlich über unseren Verhältnissen leben, dürfte mittlerweile allgemeine Zustimmung finden, ein paar Ignoranten ausgenommen. Der Klimawandel ist messbar im Gange. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nimmt beständig zu und sorgt für eine wärmende Atmosphärenschicht. Insofern ist es schon interessant, wenn weiterhin nach neuem Öl und neuem Gas gesucht wird. Wenn die Käufer immer noch vor PS-strotzenden SUVs glänzende Augen bekommen. Wenn jetzt noch Kohlekraftwerke gebaut werden und Windräder verhindert. Wenn der Staat Fluggesellschaften rettet und Dorfbürgermeister Umgehungsstraßen fordern.
Aber man muss das alles der Planlosigkeit anlasten. Wie soll man auf Umgehungsstraßen verzichten können, wenn der öffentliche Nahverkehr vernachlässigt wird? Wie soll man den intrakontinentalen Flugverkehr auf ein veraltetes Schienennetz bringen? Wie soll man Windräder bauen können, wenn jedes noch so fadenscheinige Argument aus dem Hut gezaubert wird. Ja, wie soll sich etwas ändern, wenn Änderung nicht erwünscht ist. Nur lässt sich der Klimawandel durch Nichtstun nicht verhindern und schon gar nicht mit „Augen zu und durch“. Wie man jetzt schon an den Auswirkungen sieht, wird die Zeche jedes Jahr gesalzener. Vielleicht wird die jetzige Verursachergeneration das noch mit höheren Versicherungsbeiträgen abfedern können. Aber die nächste? Dabei haben die eh schon mit dem ganzen Atomschrott ärger genug aufgebürdet bekommen, ohne dass sie auch nur eine Kilowattstunde Strom davon bekämen.
Man kann es drehen und wenden wie man will, die aktuellen Erwachsenengenerationen haben schon verdammt viel Dreck am Stecken und immer noch fehlt es an Einsicht und noch mehr am Willen zur Mäßigung und Umkehr. Vielleicht wäre es anders, wenn Moses ein elftes Gebot zur Bewahrung der Schöpfung hinzugefügt hätte. Aber das war damals halt absolut kein Thema. Moses führte die Israeliten zu Fuß durch die Wüste, dabei wäre es mit SUVs wesentlich einfacher gegangen und mit ein paar Kreuzfahrtschiffen hätte Gott das Rote Meer nicht teilen müssen. Wäre das erdgeschichtliche Timing also um eine Nuance schneller gewesen, müssten wir uns nicht den Spiegel vorhalten lassen, sondern könnten mit zwei Zöpfen zornig gegen unsere Altvorderen aufbegehren und verzweifelt versuchen, deren fatale Fehler und Hinterlassenschaften irgendwie lebenswert zu überstehen.
Aber diese Option haben wir leider nicht. Sondern die bittere Pille des Verzichts liegt zum Schlucken bereit und es ist niemand da, dem wir unsere Schuld anlasten könnten. Ob es genügt, Flugzeuge mit sparsameren Triebwerken auszustatten? Autos in gewohnter Größe und PS-Stärke zu elektrifizieren? Das traute Heim in ein Home Office umzuwandeln? Wird und das alles den Verzicht ersparen? Den Luxus erhalten? Wären wir überhaupt bereit, der Nachkommen willen zu verzichten? Vielleicht sollten wir uns die Frage anders herum stellen: Wäre nicht so mancher Verzicht in Wirklichkeit eine Befreiung? Zumindest würde dann jeder Verzicht wesentlich leichter fallen. Wer einen hohen Berg erklimmen will, wird auf einen möglichst leichten Rucksack achten. Die waren Schätze des Lebens stehen bestimmt nicht in Garagen.
Rapunzel
Und sie lügten doch
"Rapunzel lass mir dein Haar herunter!" so spricht der Prinz und sie lässt ihren Zopf bis zum Prinzen hinab auf das dieser am Zopf emporklettere. Was die beiden oben gemacht haben bleibt im Dunkeln. Nach allgemeiner Erkenntnis wächst das Kopfhaar 0,3 Millimeter pro Tag. Wobei die Rapunzel im Turm wohl nicht immer optimal mit Speisen versorgt wurde, was das Haarwachstum gewiss beeinträchtigt. Lieferando gab es damals noch nicht, vor allem nicht in Türmen. Und weil wir schon beim Turm sind, die sind hoch. Aber wollen wir auch hier mal Gnade vor Recht ergehen lassen, so müssen wir doch von einer Mindesthöhe von acht Metern ausgehen. Also lautet die Gretchenfrage, wie alt Rapunzel gewesen sein muss, damit die Szene funktionieren konnte. Wenn also das Haupthaar - und von diesem ist auszugehen - am Tag 0,3 Millimeter wächst, dann sind das im Jahr 109,5 Millimeter. Runden wir also auf 11 cm auf. Für die erforderliche Kletterlänge dauerte es also 800 cm geteilt durch 11 cm bis Rapunzels Haar lang genug war. Der Prinz stieg folglich an ergrautem Zopf zu einer 72-Jährigen hinauf. Ich weiß auch nicht, warum das bis heute niemand nachgerechnet hat. Und jetzt sind wir mal von einem nicht allzu großen Turm ausgegangen und optimalem Haarwachstum. Rapunzels Alter könnt sich also durchaus noch nach oben verschieben. Da wird der Prinz aber Augen gemacht haben. Laut Märchen wurde Rapunzel schwanger, das hat was von Abraham und Sarah, wobei der alte Knochen ja auch schon mit Hagar im Trainingslager war. Letztlich ist das ein Ödipus-Komplex und mit solchen abstrusen Geschichten beschäftigten sich die Gebrüder Grimm und belogen ganze Kindergenerationen. Doch sie sind gestorben und leben nicht mehr heute.
Karfreitagsalternative
Die Unfähigkeit des Betens
Ostern 2020 wird wohl in die Geschichte als Ostern ohne Menschen eingehen. Karfreitag, Radtour auf dem Leinenradweg. Die Grenzübergänge zu Österreich verrammelt. Schengen? In Österreich wird gearbeitet, auf abgelegenen Höfen auch, ebenso auf weniger Abgelegenen. Nun ja, den Karfreitag als Feiertag haben wir eh nur den evangelischen Christen zu verdanken, sonst wäre bei uns auch Österreich und normaler Arbeitstag. Soll man den Karfreitag überhaupt feiern? Soll man den Tag, an dem wir der Hinrichtung Christi gedenken, eine Hinrichtung, bei der sich die Menschheit mit Blut befleckte, soll man diesen Karfreitag also tatsächlich feiern?
Aber die Menschheit hat von jeher getötet und sie tut es immer noch. Tausend Coronatote im Norden wiegen mehr als 8000 verhungerte Kinder im Süden, die es auch täglich gibt. Der Bundestag konnte sich neulich nicht dazu durchringen, Atomwaffen zu ächten. Atomwaffen töten, das ist ihr Zweck. Karfreitag in Scheidung. Da die Kirche, dort die Menschen. Die Kirche enthält den Christen Gott vor. Beten findet in der Kirche statt, Beten ist institutionalisiert, privates Beten wird nicht mehr unterstützt. Nach der Schule keine Unterweisung mehr für privates Beten. Das hat das Beten ausgedünnt. Soll mir keiner sagen, dass es keinen Grund mehr gibt für das Gebet. Vielleicht und Gott sei Dank sind viele Gründe anders geworden.
Gott ist nicht von der Kirche gemietet
Gott aber ist nicht in der Kirche eingesperrt, nicht im Tabernakel, nicht von der Kirche gemietet. Er ist Gott, überall und immer. Also ist er immer da, nicht nur am Sonntag, nicht nur die eine mehr oder weniger langweilige Stunde in der Kirche. Verständlicher weise bekommst du von der Kirche nur das zu hören, was dich an sie bindet. Das ist ja durchaus auch nicht verkehr, denn der Mensch braucht Riten und die Kirche hat sie im Angebot. Doch ist die Kirche nicht der einzige Weg zu Gott. Der private Weg zu Gott darf alles auf den Prüfstein stellen, den Müll von 2000 Jahren raustragen und dem Glauben auf den Grund gehen. Was glaubst du und was ist leere Glaubenshülse?
Können 2000 Jahre Christentum irren?
Aber können 2000 Jahre Christentum irren? Natürlich. Auch 10.000 Jahre können irren und vermutlich auch 100.000 Jahre. Wie ist der Prunkt und Pomp, die Adelshierarchie der Kirche mit der Lehre Jesu in Einklang zu bringen? Menschen sind stolz und hochmütig, Menschen sind raffgierig und egoistisch. Aus diesen menschlichen Unarten erwuchs die Kirche in ihrer jetzigen Form, mit ihren Stärken und Schwächen und selbst der Papst hat weder Macht noch Kraft auch nur eine der Wurzelsünden auszureißen. Eine Ausgeburt dieser Überhöhung des Ichs resultiert auch darin, dass wir uns als Ziel Gottes definieren, also Gott einzig und allein für uns Menschen dazusein hat. Obwohl wir erdgeschichtlich betrachtet nur einen Augenblick existieren, da täte uns Bescheidenheit wirklich gut und wenn wir die ganze Schöpfung als Gottes Schöpfung betrachteten, wären wir zu deutlich mehr Sorgfalt im Umgang mit unserer Erde angehalten.
Kirche bietet Rituale
Ist also alles an der katholischen Lehre Quatsch? Nein, denn der Mensch braucht Rituale und diese Rituale leistet die Kirche. Quatsch ist es dann, wenn diese Rituale, Regeln und Vorschriften zu Dogmen hochstilisiert werden.
Religion muss den Menschen dienen, das ist ihre oberste Aufgabe. Religion als Wegweiser und Wegbegleiter zum Eigentlichen. Aber was ist das Eigentliche? Das Eigentliche ist der Kern des Lebens. Der innere Mensch, das ureigene Ich. Man darf es nicht überbewerten, nicht über andere stellen, denn wir sind zur Gemeinschaft berufen, obwohl wir alle Egoisten sind. Man muss leider auch erkennen, dass dieses innere Ich verletzlich ist (Missbrauchsskandale, nicht nur in der Kirche), dass es sogar unerträglich werden kann. Aber das eigentliche Ich zu suchen und zu erkennen, ist ein erster Schritt zur Erkenntnis Gottes, denn wir alle sind Teil dieses alles durchdringenden, alles seienden göttlichen Wesens.
Das Leben als Individuum
Nach der Zeugung wachsen wir zum Individuum heran, führen ein Leben in Distanz zu Gott und sind doch Teil von ihm. Wenn uns das Leben verlässt, werden wir wieder mit Gott vereint. Und Jesus? Er ging auch diesen Weg. Er war erfüllt von der Idee der Reinheit der Religion, eine Reinheit, zu der die Menschheit jedoch nicht taugt. Deshalb musste er sterben. Das Christentum ist dabei um keinen Deut besser, als das von ihm kritisierte Judentum. Religion kann nicht besser sein als die Menschen, das ist – so konnte man es sagen – ein Menschennaturgesetz.
Die Notwendigkeit der Veränderung
Muss man also alle Unzulänglichkeit als leider unveränderbar hinnehmen? Nein, das sicher nicht. So wie sich die Welt verändert, so verändern sich die Menschen und der Kirche wird auch nichts anderes als Veränderung übrig bleiben. Je länger sie sich widersetzt, desto gravierender die Veränderung. Folglich wäre es wesentlich klüger, Veränderungen zeitnah umzusetzen. Und bei allem Pessimismus muss man doch die positiven Entwicklungen erkennen. Immerhin bald 75 Jahre Frieden in Westeuropa. Wann gab’s das je? Immerhin geht die Zahl der Analphabeten ständig zurück. Immerhin wird die Ernährungslage immer besser. Immerhin bekommen wir immer mehr Krankheiten in den Griff.
Ostern 2020, ein Wachruf! Kirche! Mach deine Mitglieder bitte schön ein bisschen selbständiger. Beten kann man völlig allein. Macht euch also ein bisschen entbehrlicher. Aber mit dem Beten ist es wie mit dem Singen. Ein bisschen Anleitung macht das Ergebnis deutlich besser. Glauben im Alltag! Das wäre wohl ein passendes Motto.
Die neue Kirchenleere
Corona ermöglicht schon heute einen Blick in die reformverweigerte Kirche
Wenn Jesus damals schon gewusst hätte, was aus seiner Kirche wird, hätte er sich dafür kreuzigen lassen? Und es waren nicht nur die extrem düsteren Zeiten des Mittelalters, die man den Menschen erspart hätte. Die Kirche war immer eine Nehmende. Die Gläubigen, gerne als Schafe bezeichnet, waren ihr ausgeliefert und mussten sie ernähren. Dank Aufklärung sind wir heute frei, frei zu glauben und frei es ohne katholische Kirche zu tun. Frei, über Sinn und Inhalt von Religion nachzudenken. Frei, Bücher von Schriftstellern zu lesen, die von der Kirche die Lehrerlaubnis entzogen bekamen. Küng, Drewermann, Stutz. Intelligente Geister, deren Erkenntnisse über die Marmorpaläste des Vatikan hinausreichten, in sie nicht hineinpassten.
Vom Herrschen zum Dienen
Will die Kirche überleben? Natürlich will sie das und zwar auf möglichst hohem Niveau. Aber wie soll das gehen? Je mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren, umso reduzierter werden die Kirchensteuerzahler und umso weniger Politiker wird es geben, die dem Staat zumuten wollen, die Kirchensteuer einzutreiben. Der Tag X ist vermutlich nicht mehr allzufern. Und dann? Zunächst mal großes Heulen und Wehklagen über die vermeintliche Ungerechtigkeit. Aber ist es ungerecht, wenn einer Institution, die ein Feudalsystem gegen den Willen der meisten Mitglieder aufrecht erhalten will, die Unterstützung verweigert wird. O, es geht ja um die reine und unverfälschte Lehre! "Der Größte unter euch soll euer Diener sein!" Also wenn das dienen ist, was die Herren Kirchenfürsten Müller & Co. machen, dann muss man Dienen neu definieren. Ihr Verhalten mit der Forderung Jesu in Einklang zu bringen, wird selbst einem hartgesottenen Katholiken schwer gelingen.
Demokratie
Die Kirche von Morgen muss eine Kirche für Menschen in der Zeit sein. Also müssen die Menschen sehr viel Einfluss auf die Kirche haben. Das fängt mit einer demokratischen Struktur von unten bis ganz oben an. Wenn man sich mit der Geschichte der Päpste ein bisschen beschäftigt, dann kann der Heilige Geist oft nicht dabei gewesen sein. Sehr viele Entscheidungen haben sehr wenig mit göttlicher Fügung zu tun. Da findet man einige illustre Figuren und bemerkenswerte Korruption. Nicht der Papst sollte einen Bischof bestimmen, sondern der Diözesanrat. Auf allen Ebenen müssen Laien wesentlichen Einfluss haben. Das muss auch für den Vatikan gelten. Folglich gibt es keine deutsch Bischofskonferenz, sondern einen deutschen Katholikenrat. Der wählt seine Vertreter für den Weltkatolikenrat. Und der Weltkatholikenrat in Rom wählt den Papst. Eigentlich ganz logisch. Dann kann man endlich den Heiligen Geist aus seiner korrumpierten Rolle befreien.
Wer erfand Religion?
Es ist eine der Vermessenheiten unserer Kirche, dass sie alles, was vor ihr war als Heidentum hinstellt. Dabei muss man schon mal feststellen, dass der Monotheismus seine Entstehungsgeschichte in den Wüstenregionen des Südens begann. Im Norden gab es mehrere Götter. Es gab keine unterschiedlichen Regionen, weil jede Region für sich lebte, man also nicht sagen musste, ich bin Anhänger dieser und jener Religion. Die "Heiden" hatten was sie brauchten und sie brauchten einen Schutz gegen die zerstörerischen Kräfte der Natur, außerdem eine Brücke ins Jenseits. Denn als wir begannen abstrakt zu denken, begriffen wir recht schnell, dass unserem Leben ein Ende gesetzt ist. Und was dann? Alle Religionen haben die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt. Riten zur Besänftigung der Natur und die Schaffung eines Jenseits mit Weiterlebensgarantie. Die Religion garantierte Sicherheit und ewiges Leben. Durch Opfer kann man das Schicksal beeinflussen. Geld oder Gebet. Mehr brauchte man damals nicht, aber heute bräuchte es mehr.
Das neue Anforderungsprofil
Fitnessclubs, Wellnessoasen, Yoga, die Bandbreite ist riesig. Alles Dinge, die uns keinen materiellen Vorteil bringen, aber das Wohlbefinden steigern. Wobei viele Ersatzreligionen ausschließlich um den Körper kreisen und nur wenige das Geistesleben einbeziehen. Von der Kirche ein Fitnessprogramm zu verlangen, würde den Bogen überspannen und vermutich fehlte auch das Fachpersonal. Doch allein das Geistesleben ist so ein großes und braches Feld, dass die Kirche nicht auf ungewohntem Terrain wildern muss. Aber leider ist ihr auch die Fähigkeit abhanden gekommen, sich auf die Menschen einzulassen, so sie diese Fähigkeit in den letzten Jahrhunderten überhaupt hatte. Wer ein Problem lösen will, muss es verstehen. Wer die Welt verbessern will, muss sie kennen. Wer dem Menschen helfen will, muss ihn und seine Welt kennen und verstehen.
Das zweite Vatikanische Konzil machte einen großen Schritt in die richtige Richtung. Die Pfarrgemeindräte wurden gegründet, damit die Laien ihre Erfahrungen einbringen können. Es gab eine Zeit lang alle möglichen Veranstaltungen, Vorträge, Workshops, rhythmische Gottesdienste. Aber fast alles schlief wieder ein. Pfarrgemeinderäte als Geldsammler und Pfarrfestorganisierer. Die Euphorie des Mitredens am Klerus zerschellt.
Die Zukunft
Eltern müssen den Kirchenaustritt ihrer Kinder akzeptieren, viele verstehen ihn auch. Sie hätten nicht mehr tun können. Je mehr Weit- und Tiefblick man ihnen ermöglichte, umso größer die Enttäuschung an der wunschfernen Realität. Das mag noch eine Weile so weiter gehen. Es ist halt immer eine Frage, wie viel an Zerstörung passieren muss, bis eine aussichtslose Verteidigungsposition aufgegeben wird. Und selbst dann wird es jene geben, die sich verhärmt immer noch im Besitz der einzigen Wahrheit wähnen. Dabei erkannte selbst Pilatus "Was ist Wahrheit?"
Vermutlich würden wir alle ein staunendes Erwachen erleben, wenn alles, was heute als in Stein gemeißelt gilt restlos auf Wahrheitsgehalt und Christi Willen geprüft werden könnte. Rom würde dieses Erdbeben vermutlich nicht überstehen und die Adelshierarchie zu Staub der Geschichte werden. Dann müssen wir beherzt die Ärmel hochkrempeln und ganz neu anfangen.
Der Herdentrieb
Was Webcams mit Klopapier gemein haben
Dass die Deutschen Klopapier horten, ist schon kein Hinweis auf ein lustiges Völkchen. Ich mein, wenn man über das Ziel hinausschießt, hat man es schlicht und ergreifend verfehlt und nicht mit besonders viel Fleiß ins Schwarze getroffen. Wenn ich für eine Bergwanderung zwei Liter Wasser mitnehme, weil das aus Erfahrung reicht, dann werde ich wohl kaum vier Liter im Rucksack herumschleppen. Unsere Gesellschaft ist voll durchoptimiert. Komplizierte Logistiksysteme berechnen den Klopapierbedarf voraus und sorgen für ausreichend Bestand. Wenn, ja wenn da nicht das Hamstergen wäre, das jede Logistiksoftware aus dem Konzept bringt. Wenn den Systemen nicht schleunigst beigebracht wird, dass wir trotz Hamsterkäufe nicht öfter auf's Klo gehen, folglich die angelegten Vorräte lange reichen, dann dürfte in den nächsten Monaten ein ziemliches Überangebot herrschen. Es muss also unbedingt eine Panikfunktion eingebaut werden.
Wenn unsere Versorgung auf solche Verhaltensmuster vorbereitet sein soll, dann müsste logischer Weise von jedem Artikel ein Panikvorrat angelegt werden. Da wir sehr viele Artikel im täglichen Verbrauch haben, wären dafür ganz ordentliche Lagerkapazitäten erforderlich und ziemlich viel Kapital. Vom Klopapier bis zur Webcam. Denn das ist die neue Knappheit. Weil Arbeit seit kurzem daheim stattfindet und man weiterhin kommunikativ sein will, war der üblicherweise vorrätige Bestand an Webcams flugs vergriffen. In der Folge stiegen die Preise teilweise drastisch an. Das löste interessanter Weise keinen Shitstorm aus, das teure Klopapier im Dorfladen schon. So sind eben die Wertigkeiten. Außerdem zahlen ja die Firmen für die Webcams, also was soll's. Merke: Knappheitsbedingte Wucherpreise empören nur bei Billigartikeln oder bei privatem Geldbeutel. Dass es einmal eine Klopapierrationierung geben würde, haben wohl die wenigsten für möglich erachtet.
"Die Ausgangsbeschränkungen wurden weitestgehend eingehalten." Wow, so eine Meldung aus einem bayerischen Sender in den Hauptnachrichten. Ich habe mich ja schon oft über den praktischen Nutzen von "die Ausgangssperre in Kabul wurde weitgehend eingehalten" gefragt, worüber mich ebenselber Sender auf Dauerfeuer gestellt informierte, aber nun ist Kabul auf einmal in Bayern und du fragst dich, ob bei Verstößen eventuell ohne Vorwarnung geschossen wird. "Während der Ausgangssperre wurden letzte Nacht zahlreiche Schichtarbeiter erschossen." Und wie lange würde uns so eine Meldung empören? Auf einmal wird den Nachbar zum Feind, wenn er die 150 Zentimetergrenze unterschreitet. Gestern noch Bussi Bussi und heute Abstandsregelung. Jeder Huster kann eine Massenpanik entfesseln. Wer nicht mithysteriert wird zum Gefährder.
Aber es hat auch was Gutes. Seit der C-Krise ertrinkt niemand mehr im Mittelmeer. Oder wird es nur nicht berichtet?
Seit der C-Krise gibt es keine Umweltprobleme mehr. Oder ist es auch nur der Mangel an Medieninteresse?
Die C-Krise hat sogar die Dauerführungskrise bei CDU und SPD beendet. Oder nur vergessen?
Sie wird vorbeigehen, die C-Krise und dann werden sie sagen: "Wie gut, dass wir so gut reagiert haben." Und sie werden ihre Maßnahmen mit der geringen Opferzahl rechtfertigen. Sie werden die Ausfälle in der Wirtschaft mit Geld ausgleichen, das sie nicht haben und aufgrund der Steuerausfälle auch nicht bekommen. Folglich wird es neues Geld sein, sehr viel neues Geld. Vielleicht wird das Finanzsystem kollabieren, aber dann wäre das zumindest der erste Totalcrash ohne Krieg und das hätte doch auch was sehr Vernünftiges. Denn dass ein System, welches auf ständiges Wachstum ausgelegt ist, periodisch wie ein Turm aus Bauklötzen in sich zusammenbrechen muss, wird wohl jeder verstehen, der die Erde als Kugel, folglich unwachsbar akzeptiert.
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